Dienstag, 14. April 2015

EuGH zur Kumulationsprüfung bei der UVP

Seit dem letzten Bericht über aktuelle EuGH-Judikatur hat sich relativ wenig getan beim Europäischen Gerichtshof in Bezug auf die UVP-Richtlinie. Eigentlich verdient nur eine Entscheidung in einem österreichischen Vorabentscheidungsverfahren größere Aufmerksamkeit - jene zur Testförderung von Erdgas (Urteil C-531/13 vom 11.2.2015 Marktgemeinde Straßwalchen). Die könnte allerdings neues Ungemach bei der ohnehin seit jeher unangenehmen Kumulationsprüfung bedeuten.

In der Rs Marktgemeinde Straßwalchen, C-531/13, hatte der österreichische VwGH mit Beschluss Zl. 2011/04/0178 vom 11.9.2013 dem EuGH die Frage vorgelegt, ob Aufschlussbohrungen und eine zeitlich und mengenmäßig begrenzte Testförderung von Erdgas bereits als "Gewinnung von Erdöl und Erdgas zu gewerblichen Zwecken" anzusehen seien und damit gemäß Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 UVP-pflichtig wären.
Für den Fall der Bejahung dieser Frage stellte der VwGH noch zwei weitere Fragen, nämlich:
"2.      Steht Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 einer Regelung des nationalen Rechts entgegen, welche bei der Gewinnung von Erdgas die in Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 genannten Schwellenwerte nicht an die Gewinnung an sich, sondern an die „Förderung pro Sonde“ knüpft?
3.      Ist die Richtlinie 85/337 dahin auszulegen, dass die Behörde in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die Genehmigung einer Testförderung von Erdgas im Rahmen einer Aufschlussbohrung beantragt wird, zur Feststellung, ob eine Verpflichtung zur Umweltverträglichkeitsprüfung besteht, nur alle gleichartigen Projekte, konkret alle im Gemeindegebiet aufgeschlossenen Bohrungen, auf ihre kumulative Wirkung zu prüfen hat?"
http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=162221&pageIndex=0&doclang=de&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=109240Der EuGH verneinte die angefragte Anwendbarkeit des Tatbestandes Nr. 14 des Anhanges 1, weil sich aus dem Zusammenhang und dem Ziel von Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 ergebe, "dass sich der Anwendungsbereich dieser Bestimmung nicht auf Aufschlussbohrungen erstreckt":
"Die Bestimmung knüpft die Pflicht zur Vornahme einer Umweltverträglichkeitsprüfung nämlich an die geplanten Fördermengen an Erdöl und Erdgas. Hierzu sieht sie Schwellenwerte vor, die pro Tag überschritten werden müssen, was darauf hindeutet, dass sie auf Projekte von gewisser Dauer abzielt, die die fortgesetzte Förderung relativ bedeutender Mengen an Kohlenwasserstoffen ermöglichen."
Damit war die Prüfung des EuGH jedoch nicht beendet, denn der Gerichtshof fand im Anhang II Nr. 2 Buchst. d einen anderen UVP-Tatbestand, dem auch Aufschlussbohrungen unterliegen können. Bei den im Anhang II genannten Projekten haben die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 85/337 entweder anhand einer Einzelfalluntersuchung oder anhand der von ihnen festgelegten Schwellenwerte bzw. Kriterien zu bestimmen, ob sie einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden müssen.
Zu diesen Projekten zählen die in Nr. 2 Buchst. d dieses Anhangs aufgeführten Tiefbohrungen, die "insbesondere Bohrungen zur Gewinnung von Erdwärme, Bohrungen im Zusammenhang mit der Lagerung von Kernabfällen und Bohrungen im Zusammenhang mit der Wasserversorgung" umfassen, "ausgenommen Bohrungen zur Untersuchung der Bodenfestigkeit".
Da diese Aufzählung nur demonstrativ ist ("insbesondere"), unterwarf der EuGH auch die in Rede stehenden Aufschlussbohrungen für Erdgas, "soweit sie Tiefbohrungen sind", dieser Richtlinienbestimmung.
Angesichts der Antwort auf die erste Frage des VwGH, mit der die Anwendung des im ersten Anhang zur UVP-RL enthaltenen Tatbestandes der Nr. 14 verneint worden war, erübrigte sich für den EuGH die Beantwortung der zweiten Frage.
Zur dritten Frage aber hat der Gerichtshof in Rn 34 ff durchaus Spannendes zu sagen. Da sticht er nämlich direkt hinein in das "Wespennest" der Kumulationsbestimmungen, die der Praxis seit jeher Schwierigkeiten bereiten:
"33    Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 85/337 dahin auszulegen ist, dass die zuständige Behörde zur Feststellung, ob eine Aufschlussbohrung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende der Pflicht zur Prüfung der Umweltverträglichkeit unterliegt, nur die kumulativen Auswirkungen der gleichartigen Projekte – im vorliegenden Fall nach Angaben des vorlegenden Gerichts alle im Gemeindegebiet aufgeschlossenen Bohrungen – zu berücksichtigen hat."
Um eine Antwort geben zu können, muss der EuGH die Frage des VwGH zunächst so umformulieren, dass er "dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort ... geben" kann, denn der österreichische VwGH hatte angenommen, dass sich eine UVP-Pflicht des in Rede stehenden Projektes nur auf Grundlage des Art 4 Abs 1 UVP-RL ergeben konnte, während der EuGH ja einen dem Art 4 Abs 2 unterliegenden Tatbestand als anwendbar ausgemacht hat. Daher wurde die dritte Frage vom EuGH im Licht der Verpflichtungen beantwortet, die sich aus Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 85/337 in Verbindung mit Anhang II Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie ergeben können.
Wörtlich führt der EuGH aus:
39      In Rn. 27 des vorliegenden Urteils ist darauf hingewiesen worden, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 85/337 anhand einer Einzelfalluntersuchung oder anhand der von ihnen festgelegten Schwellenwerte bzw. Kriterien zu bestimmen haben, ob die unter Anhang II der Richtlinie fallenden Projekte einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden müssen.
40      Hinsichtlich der Festlegung dieser Schwellenwerte oder Kriterien räumt Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 85/337 den Mitgliedstaaten insoweit zwar einen Wertungsspielraum ein. Dieser Spielraum wird jedoch durch die in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie festgelegte Pflicht begrenzt, die Projekte, bei denen u. a. aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standorts mit erheblichen Auswirkungen zu rechnen ist, einer Untersuchung ihrer Auswirkungen auf die Umwelt zu unterziehen (Urteil Salzburger Flughafen, C‑244/12, EU:C:2013:203, Rn. 29).
41      Demgemäß wird mit den in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 85/337 erwähnten Kriterien und Schwellenwerten das Ziel verfolgt, die Beurteilung der konkreten Merkmale eines Projekts zu erleichtern, damit bestimmt werden kann, ob es der Pflicht zur Prüfung der Umweltverträglichkeit unterliegt (Urteil Salzburger Flughafen, EU:C:2013:203, Rn. 30).
42      Daraus folgt, dass die zuständigen nationalen Behörden, die mit einem Antrag auf Genehmigung eines Projekts von Anhang II dieser Richtlinie befasst sind, eine besondere Prüfung der Frage vorzunehmen haben, ob unter Berücksichtigung der Kriterien in Anhang III der Richtlinie eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzunehmen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Mellor, C‑75/08, EU:C:2009:279, Rn. 51).
43      Insoweit ergibt sich aus Anhang III Nr. 1 der Richtlinie 85/337, dass die Merkmale eines Projekts insbesondere hinsichtlich der kumulativen Auswirkungen mit anderen Projekten zu beurteilen sind. Die Nichtberücksichtigung der kumulativen Auswirkung eines Projekts mit anderen Projekten kann nämlich zur Folge haben, dass es der Verpflichtung zur Verträglichkeitsprüfung entzogen wird, obwohl es zusammengenommen mit anderen Projekten erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Brussels Hoofdstedelijk Gewest u. a., EU:C:2011:154, Rn. 36).
44      Dieses Erfordernis muss im Licht von Anhang III Nr. 3 der Richtlinie 85/337 gelesen werden, wonach die potenziellen erheblichen Auswirkungen der Projekte anhand der unter Anhang III Nrn. 1 und 2 der Richtlinie aufgeführten Kriterien zu beurteilen sind und insbesondere der Wahrscheinlichkeit, dem Ausmaß, der Schwere, der Dauer und der Reversibilität der Auswirkungen des Projekts Rechnung zu tragen ist.
45      Daraus folgt, dass es einer nationalen Behörde bei der Überprüfung, ob ein Projekt einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden muss, obliegt, die Auswirkungen zu prüfen, die das Projekt zusammen mit anderen haben könnte. Mangels einer Präzisierung ist diese Pflicht im Übrigen nicht allein auf gleichartige Projekte beschränkt. Wie die Generalanwältin in Nr. 71 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ist in diese Vorprüfung einzubeziehen, ob die Umweltauswirkungen der Aufschlussbohrungen wegen der Auswirkungen anderer Projekte größeres Gewicht haben können als bei deren Fehlen.
46      Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 85/337 in der Tat ernsthaft in Frage gestellt wäre, wenn die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats bei der Entscheidung über die Frage, ob ein Projekt einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden muss, den in einem anderen Mitgliedstaat durchzuführenden Teil des Projekts außer Acht lassen dürften (Urteil Umweltanwalt von Kärnten, EU:C:2009:767, Rn. 55). Aus denselben Gründen kann die Beurteilung der Auswirkungen anderer Projekte nicht von den Gemeindegrenzen abhängen.
47      Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 85/337 in Verbindung mit deren Anhang II Nr. 2 Buchst. d dahin auszulegen ist, dass sich bei einer Tiefbohrung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aufschlussbohrung aus dieser Vorschrift die Pflicht zur Vornahme einer Umweltverträglichkeitsprüfung ergeben kann. Die zuständigen nationalen Behörden müssen daher eine besondere Prüfung der Frage vornehmen, ob unter Berücksichtigung der Kriterien in Anhang III der Richtlinie eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzunehmen ist. In diesem Rahmen ist u. a. zu prüfen, ob die Umweltauswirkungen der Aufschlussbohrungen wegen der Auswirkungen anderer Projekte größeres Gewicht haben können als bei deren Fehlen. Diese Beurteilung kann nicht von den Gemeindegrenzen abhängen." 
Die vom EuGH hier verlangte Kumulationsprüfung ist eine recht weite: Es obliegt der Behörde, die Auswirkungen zu prüfen, die das Projekt zusammen mit anderen Vorhaben "haben könnte", wobei die Prüfung weder von Gemeindegrenzen abhängt noch - wie der EugH ausführt - auf "gleichartige Projekte" beschränkt ist!
Dass die Kumulationsprüfung an Gemeindegrenzen nicht halt macht, leuchtet ein, das Fehlen einer Einschränkung auf "gleichartige Projekte" ist aber kritisch zu sehen.
Während sich auf der einen Seite das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 27.3.2014 (W143 2000181-1/8E, Windpark Koralpe) darum bemühte, der uferlosen Kumulation mit allen bestehenden Anlagen, die in einem räumlichen Zusammenhang stehen, einen zeitlichen Riegel vorzuschieben, indem es die 5-Jahres-Zusammenrechnungsregel für Änderungsvorhaben in § 3a Abs. 5 UVP-G analog auf die Kumulation angewendet hat, wird vom EuGH nun möglicherweise die bisher in Österreich unstrittige Einschränkung der Kumulation auf Projekte, deren Schwellenwerte in der gleichen Einheit gemessen werden (und daher zusammengerechnet werden können), in Frage gestellt.
Der EuGH verweist dazu in seinem Urteil nur auf die Ausführungen der Generalanwältin in Nr. 71 ihrer Schlussanträge. Es sei in die UVP-Kumulations-Vorprüfung einzubeziehen, ob die Umweltauswirkungen der Aufschlussbohrungen "wegen der Auswirkungen anderer Projekte" größeres Gewicht haben können als bei deren Fehlen. Welche "anderen Projekte" in diese Prüfung einzubeziehen sind, muss daher den Ausführungen der Generalanwältin in ihrer "opinion" entnommen werden. Diese lautet wie folgt:
"71    The preliminary assessment must also consider whether, on account of the effects of other projects at the site or in the surrounding area, such as natural gas pipelines and storage facilities, the environmental effects of the exploratory drillings may be greater than they would be in the absence of such other Projects."
Eine Beschränkung auf andere Tiefenbohrungen allein ist das nicht. Und wie soll bei einem solchen Verständnis von Kumulation eigentlich konkret vorgegangen werden? Unmöglich ist es jedenfalls, die im österreichischen System der Kumulierung vorgesehene Zusammenrechnung der Kapazitäten der zu kumulierenden Projekte vorzunehmen (vgl § 3 Abs 2 UVP-G 2000: zu kumulieren sind Vorhaben, die "mit anderen Vorhaben in einem räumlichen Zusammenhang stehen und mit diesen gemeinsam den jeweiligen Schwellenwert erreichen oder das Kriterium erfüllen".) Wie soll man "Erdgasleitungen und Erdgasspeicher" mit Tiefenbohrungen auf einen Nenner bringen?
Wenn man in den Schlussanträgen aber früher zu lesen beginnt (ab Rn 68) und bis Rn 72 weiterliest, dann kann man zumindest folgende Einschränkungen der "uferlosen" Kumulationsprüfung konstatieren (vgl Bergthaler, Neuer Kummer mit der Kumulation, RdU-U&T 2015/1):
- auf artgleiche sowie technologisch oder geologisch verbundene Anlagen ("Erdgasleitungen, Erdgasspeicher und andere Anlagen", mit denen die Probebohrung "an einem Förderstandort verbunden ist oder die sonstige, früher konstruierte Infrastruktur mit ihr zusammen ein gemeinsames Projekt bildet"; Rn 72)
- auf die Frage, ob "die Umweltauswirkungen ... wegen der Auswirkungen anderer Projekte am Standort oder in der Umgebung, etwa von Erdgasleitungen und Erdgasspeichern, größeres Gewicht haben können als in deren Abwesenheit" (Rn 71)
Ob man dem Kummer mit der Kumulation durch diese einschränkenden Hinweise mildern kann, bleibt fürs Erste offen (der VwGH muss sich zunächst im konkreten Fall Zl. 2011/04/0178 seinen Reim darauf machen). Doch soll dieser Artikel nicht ohne einen Hoffnungsschimmer für die über Kumulationsfragen brütenden UVP-Rechtler enden:

Der VwGH hat nämlich in einer jüngst zu einem Wasserkraftwerk ergangenen Entscheidung ausgeführt, dass es bei der Kumulation nur um die "Überlagerung der Wirkungsebenen" der verschiedenen Eingriffe gleichartiger Vorhaben "im Sinne kumulativer und additiver Effekte" geht (VwGH 2011/07/0214 vom 24.7.2014):
"Kann es zu einer derartigen Überlagerung der Wirkungsebenen dieser Eingriffe im Sinne kumulativer Effekte jedoch nicht kommen und liegt somit kein räumlicher Zusammenhang vor, so sind die Voraussetzungen für die Durchführung einer Einzelfallprüfung nicht gegeben."
Eine räumliche Nähe für sich allein ist also nicht ausreichend, um die Verpflichtung zur Kumulationsprüfung auszulösen.

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