Der VwGH hat nun den vom EuGH in einer Vorabentscheidung behandelten Fall „Karoline Gruber" entschieden. Die Entscheidung lässt allerdings weitgehend offen, wie von Verwaltungsgerichten und Behörden weiter vorzugehen ist.
Der VwGH hat mit seinem Erkenntnis vom 22. Juni 2015, 2015/04/0002, die angefochtene Betriebsanlagengenehmigung für ein Fachmarktzentrum in Klagenfurt wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben, weil die Gewerbebehörde unter Hinweis auf einen – die Behörde bindenden – UVP-Feststellungsbescheid auf den Einwand einer Nachbarin, dass das Vorhaben UVP-pflichtig sei, nicht näher eingegangen war.
Begründung des VwGH
Begründend verweist der Gerichtshof darauf, dass die Nachbarin der geplanten Betriebsanlage an den UVP-Feststellungsbescheid, nach dem für das Projekt keine UVP durchgeführt werden müsse, nicht gebunden ist. Dem Urteil des EuGH vom 16. April 2015, C-570/13 sei zu entnehmen, dass die Entscheidung, keine UVP durchzuführen, als Entscheidung im Sinne des Art 11 UVP-RL anzusehen ist. Daher steht dem Nachbarn als Mitglied der betroffenen Öffentlichkeit dagegen eine Rechtsbehelfsmöglichkeit zu, die von der bisherigen österreichischen Judikatur aber im Falle eines UVP-Feststellungsbescheides aufgrund der angenommenen Bindungswirkung solcher Bescheide verneint worden war.
Weiter führt der VwGH aus, dass dem Nachbarn (konkret auch einer Grundstückseigentümerin, die das Nachbargrundstück in ihrer Freizeit und zur Erholung nur vorübergehend nutzt) schon nach der bisherigen Rechtsprechung im gewerbebehördlichen Betriebsanlagenverfahren ein subjektives Recht auf Einhaltung der gesetzlich normierten Zuständigkeiten zusteht und man daher schon bisher einwenden habe können, es sei keine UVP durchgeführt worden. Nach der Rsp des VwGH habe die (Fach-)Behörde ihre Zuständigkeit außerdem schon von Amts wegen zu prüfen und „auf Grund nachvollziehbarer Feststellungen im angefochtenen Bescheid darzulegen, warum sie vom Fehlen einer UVP-Pflicht und damit von ihrer Zuständigkeit ausgeht".
Neu ist jedoch nun, dass die Behörde bei dieser Prüfung sich nicht mit dem Verweis auf eine vorliegende rechtskräftige UVP-Negativ-Feststellung begnügen kann. Denn der EuGH hat im Urteil „Gruber" ausgesprochen, dass die Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit die Möglichkeit haben müssen, die Feststellungsentscheidung „im Rahmen eines gegen sie oder gegen einen späteren Genehmigungsbescheid eingelegten Rechtsbehelfs anzufechten". Im vorliegenden Fall sei der Nachbarin der UVP-Feststellungsbescheid erst nachträglich zur Kenntnis gelangt, ihr aber (mangels Parteistellung gemäß § 3 Abs 7 UVP-G) nicht zugestellt worden. Nach der Rechtsprechung des EuGH müsse in diesem Fall festgestellt werden, dass der Feststellungsbescheid „gegenüber diesen Nachbarn keine Bindungswirkung hat (Tenor des Urteils ‚Gruber‘)".
Fazit des VwGH: „Somit ist entgegen der bisherigen […] Rechtsprechung davon auszugehen, dass der UVP-Feststellungsbescheid gegenüber diesen Nachbarn keine Bindungswirkung hat. […] Vor diesem Hintergrund war der angefochtene Bescheid", der auf den Einwand der UVP-Pflicht wegen der Negativfeststellung nicht eingegangen war, „wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben".
Wie ist nun mit dem Einwand einer UVP-Pflicht umzugehen?
Das Erkenntnis lässt offen, wie von dem nach Bescheidaufhebung nun zuständigen Verwaltungsgericht bzw der Gewerbebehörde weiter vorzugehen ist. Die spärlichen Hinweise im Erkenntnis können in zwei Richtungen gedeutet werden: Einerseits wird – wie oben referiert – ausgeführt, dass die Gewerbebehörde im Rahmen ihrer Zuständigkeitsprüfung „nachvollziehbare Feststellungen" zur Frage einer UVP-Pflicht zu treffen hat.
Das kann darauf hindeuten, dass durch die Materienbehörde oder das für diese Materie zuständige Verwaltungsgericht nun ein Beweisverfahren über die UVP-Pflicht durchzuführen ist (wobei sämtliche Beweismittel aus dem bereits abgeführten UVP-Feststellungsverfahren herangezogen werden können). In diesem Sinne habe ich mich in meiner Besprechung des EuGH-Urteils in der Zeitschrift RdU vom Juni 2015/84 geäußert. Dagegen spricht auch nicht der nunmehrige Hinweis des VwGH, dass eine „Durchführung der UVP durch die belangte Behörde als UVP-Behörde […] nach der Rechtsprechung des EuGH im Urteil ‚Gruber‘ unionsrechtlich unzulässig [ist], da der EuGH festhielt, dass ‚ein Verfahren wie das u.a. durch die §§ 74 Abs. 2 und 77 Abs. 1 der Gewerbeordnung geregelte nicht den Erfordernissen der Unionsregelung über die Umweltverträglichkeitsprüfung entsprechen" kann (vgl. Rn. 47), und damit die Möglichkeit einer de facto-UVP (zumindest) im Rahmen des gewerberechtlichen Betriebsanlagenverfahrens ausschloss […]." Diese Aussage zur Unzulässigkeit einer de facto-Prüfung in einem materienrechtlichen Genehmigungsverfahren bezieht sich nämlich nicht auf die Prüfung der UVP-Pflicht im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung.
Andererseits erwähnt der VwGH im Zusammenhang mit der fehlenden Bindungswirkung der UVP-Feststellung ausdrücklich, dass der Nachbarin der UVP-Feststellungsbescheid nicht zugestellt worden sei. Aus diesem Hinweis könnte man folgern, dass für den Fall einer Zustellung des Feststellungsbescheids durch die UVP-Behörde an die Nachbarin von dieser ein Rechtsmittel gegen diesen Bescheid hätte erhoben werden können, wodurch die unionsrechtlich gebotene Überprüfung gegeben wäre. Sind Nachbarn daher nun als „übergangene Parteien" in schon durchgeführten UVP-Feststellungsverfahren zu behandeln, können sie Bescheidzustellung beantragen und Beschwerde gegen den Bescheid an das BVwG erheben?
Meines Erachtens ist bis zum Ergehen einer gesetzlichen Neuregelung jene Variante vorzuziehen, die die Prüfung der UVP-Pflicht der Materienbehörde im Rahmen ihrer Zuständigkeitsprüfung überantwortet. Dass der Gesetzgeber die Nachbarn am UVP-Feststellungsverfahren nicht beteiligen wollte, ist eindeutig, und nach dem EuGH ist eine unmittelbare Anfechtungsmöglichkeit von UVP-Feststellungsbescheiden nicht zwingend. Vielmehr hat der EuGH das Unionsrecht im Urteil vom 16. April 2015 ausdrücklich dahin ausgelegt, dass eine UVP-Feststellung entweder „im Rahmen eines gegen sie oder gegen einen späteren Genehmigungsbescheid eingelegten Rechtsbehelfs" angefochten werden kann (Rn 44). In diesem Sinne hat nun auch das BVwG im Fall "Biomasse-HKW Klagenfurt" entschieden und dort ausgeführt:
Eine gesetzliche Neuregelung könnte mE so aussehen, dass Nachbarn dasselbe Beschwerderecht eingeräumt wird, welches schon derzeit den Umweltorganisationen nach § 3 Abs 7a UVP-G zukommt. Die Einräumung einer Parteistellung oder eine Antragsrechtes im UVP-Feststellungsverfahren erscheint nicht erforderlich (vgl dazu im Einzelnen meine Entscheidungsanmerkung im RdU 2015/84).
Anhängige Fälle
In den anhängigen Fällen wäre auf die von Nachbarn in den Genehmigungsverfahren erhobenen Einwendungen nun ungeachtet des Vorliegens einer UVP-Negativfeststellung von der Materienbehörde oder dem Verwaltungsgericht einzugehen, und es sind im Sinne des Erkenntnisses des VwGH „nachvollziehbare Feststellungen" zur Beurteilung der UVP-Pflicht zu treffen (durchaus unter Heranziehung der Ergebnisse eines abgeführten oder durch die Materienbehörde als "mitwirkende Behörde" iS des § 3 Abs 7 UVP-G erst eingeleiteten Einzelfallprüfungs- oder Feststellungsverfahren, zu denen dem Nachbarn gegebenenfalls Parteiengehör zu gewähren wäre). In speziellen Konstellationen, in denen keine ergänzenden Beweise notwendig sind, könnte diese Prüfung mE sogar in Verfahren, die beim VwGH anhängig sind, vom Verwaltungsgerichtshof selbst vorgenommen werden – etwa dann, wenn im Wesentlichen nur rechtliche Einwände gegen einen vorliegenden Feststellungsbescheid zu beurteilen sind.
Mit dem Erkenntnis vom 22. Juni 2015 hat der VwGH erste Hinweise zu diesen Fragen gegeben. Doch das Match um UVP und Nachbarbeteiligung bleibt spannend. Fortsetzung folgt ...