Mittwoch, 20. Oktober 2010

VwGH ändert Instanzenzug im dritten Abschnitt

Umweltsenat ist auch bei Eisenbahn-Hochleistungsstrecken Berufungsbehörde bei der Umweltverträglichkeitsprüfung

Mit zwei Beschlüssen vom 30.9.2010 hat der Verwaltungsgerichtshof die vom Gesetzgeber des UVP-G normierte besondere Zuständigkeit bei Bundesstraßen und Eisenbahnhochleistungsstrecken - für die UVP ist der Verkehrsminister (BMVIT) statt der Landesregierung zuständig; gegen dessen Entscheidung kann nicht der Umweltsenat, sondern sogleich der VwGH angerufen werden - für unanwendbar erklärt.

In den beiden beim Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheiden war jeweils vom BMVIT eine Genehmigung nach dem UVP-Gesetz für die Errichtung bzw den zweigleisigen Ausbau von Eisenbahn-Fernverkehrsstrecken erteilt worden. Über die beiden Projekte - den Brenner-Basistunnel und die Angerschluchtbrücke (im Gasteinertal) -  hatte in erster und einziger Instanz die Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie entschieden, weil gemäß § 40 Abs 1 UVP-Gesetz in Angelegenheiten nach dem dritten Abschnitt dieses Gesetzes (Bundesstraßen und Eisenbahn-Hochleistungsstrecken) der Umweltsenat nicht als Berufungsbehörde angerufen werden kann.

In den Beschwerden wurde nicht nur bemängelt, dass die belangte Behörde die Umweltauswirkungen der Vorhaben unzutreffend beurteilt und sich mit Sachverständigengutachten der Projektgegner nicht ausreichend auseinander gesetzt habe, sondern auch, dass die innerstaatliche Rechtslage gegen das Unionsrecht verstößt, indem sie für derartige Bewilligungen die Entscheidung in erster und letzter Instanz durch das vom Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie durchgeführte Verwaltungsverfahren vorsieht. Das Unionsrecht, nämlich Art 10a der UVP-Richtlinie, verpflichtet die Mitgliedstaaten, hinsichtlich der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen im Anwendungsbereich der UVP-Richtlinie Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht zu schaffen.

Der Verwaltungsgerichtshof stellte dazu - unter Hinweis auf Urteile des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) - fest, dass Art 10a der UVP-Richtlinie die nähere Ausgestaltung des Überprüfungsverfahrens zwar dem nationalen Gesetzgeber überlässt, dabei jedoch die Effektivität des Rechtsschutzes nicht beeinträchtigt werden dürfe. Die Beschwerde an den VwGH gewährleiste eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der verwaltungsbehördlichen Entscheidung, die jedenfalls in Bezug auf die Auslegung und richtige Anwendung der maßgebenden Rechtsvorschriften den Anforderungen des Art 10a UVP-RL entspreche. Damit könne es dem VwGH im Einzelfall möglich sein, den unionsrechtlich geforderten Rechtsschutz (insbesondere durch eine im Einzelfall vorgenommene Prüfung „Punkt für Punkt“) zu bieten. Gerade im Bereich der UVP seien aber regelmäßig Tatsachen, insbesondere Art und Ausmaß von Umweltauswirkungen eines Vorhabens, im besonderen Maße entscheidend für die Genehmigungsfähigkeit des Projekts.

Unionsrechtlich sei dort, wo nach der UVP-RL die Durchführung einer UVP geboten ist, eine effektive Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung über die Umweltverträglichkeit durch eine gerichtliche Kontrollinstanz („Tribunal“ iS des Art 6 EMRK) erforderlich, die – vor einem Rechtszug an den Verwaltungsgerichtshof - auch selbst Beweise aufnehmen und eigenständig Feststellungen treffen könne. Die Entscheidung durch eine Bundesministerin, verbunden mit der eingeschränkten Kontrollzuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes, sei in Fällen wie dem vorliegenden, in dem die Richtigkeit des von der belangten Behörde angenommenen Sachverhaltes unter Bezugnahme auf vorgelegte Gegengutachten in Zweifel gezogen wird, nicht ausreichend, um die genannten Anforderungen der UVP-RL zu erfüllen.

Es sei daher eine gerichtliche Kontrollinstanz, die auch selbst Beweise aufnehmen und eigenständig Feststellungen treffen kann, erforderlich, um das Gebot des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes im Anwendungsbereich der UVP-RL zu erfüllen. Ein diesen Anforderungen entsprechendes Gericht könne vom Verwaltungsgerichtshof in seiner Funktion als Höchstgericht und auf der Grundlage der von ihm anzuwendenden Verfahrensvorschriften nicht ersetzt werden.

Somit entspreche die innerstaatliche Rechtslage, wonach der – als Tribunal und damit gerichtsgleich eingerichtete – Umweltsenat zwar Berufungsbehörde in Angelegenheiten der Umweltverträglichkeitsprüfung nach dem ersten und zweiten Abschnitt des UVP-Gesetzes ist, nicht aber in Angelegenheiten nach dem dritten Abschnitt (Bundesstraßen und Eisenbahn-Hochleistungsstrecken), nicht den Anforderungen des Art 10a der UVP-RL.

In einem derartigen Fall erachtet sich der Verwaltungsgerichthof auf der Grundlage des Unionsrechts als verpflichtet, zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts die damit unvereinbare nationale Bestimmung, welche die Zuständigkeit des Umweltsenates in der dargelegten Weise einschränkt, unangewendet zu lassen. Der VwGH wendet daher die Bestimmungen, welche die Zuständigkeit des Umweltsenates auf Angelegenheiten des 1. und 2. Abschnitts des UVP-G einschränken, nicht an.

Dies bedeutet, dass auch bei den vom Verwaltungsgerichtshof behandelten UVP-Genehmigungsverfahren über Eisenbahn-Fernverkehrsstrecken den beschwerdeführenden Parteien das Recht der Berufung an den Umweltsenat zukommt. Da sie dieses Rechtsmittel nicht ergriffen haben, hat der VwGH die an ihn gerichteten Beschwerden als unzulässig zurückgewíesen (fehlende Erschöpfung des Instanzenzuges).

Der VwGH hat dadurch einen Instanzenzug "geschaffen", der nicht nur dem UVP-G widerspricht, sondern auch im Gegensatz zum bundesverfassungsrechtlichen Verbot steht, einen Instanzenzug gegen ein höchstes Organ (in concreto) der Bundesverwaltung vorzusehen (siehe Art 19 Abs 1 B-VG sowie für den 2. Abschnitt die Verfassungsbestimmung des Art 11 Abs 7 B-VG, díe die Grundlage für die Bekämpfung des Bescheids der Landesregierung [als höchstes Organ der Landesverwaltung] an den Umweltsenat einräumt) und möglicherweise auch von der Kompetenzverteilung der österreichischen Bundesverfassung im Bereich der UVP abweicht, da nach Art 10 Abs 1 Z 9 die UVP bei den Vorhaben des 3. Abschnitts anders geregelt ist als bei den Projekten des Abschnittes 2. Nach Ansicht des VwGH muss aber auch Bundesverfassungsrecht gegenüber Gemeinschaftsrecht zurücktreten, weil dem Unionsrecht Vorrang auch gegenüber dem innerstaatlichen Verfassungsrecht zukomme.

Auch wenn sich die aktuelle Entscheidung nur auf Eisenbahn-Hochleistungsstrecken bezieht, müssen konsequenterweise auch in Verfahren betreffend Bundesstraßen nach dem 3. Abschnitt die Beschwerden zurückgewiesen werden. Dafür sind allerdings andere Senate im VwGH zuständig, und es wurde nur wenige Tage vor der Beschlussfassung in den hier in Rede stehenden Rechtssachen über eine Beschwerde gegen die Genehmigung der Autobahn S10 vom VwGH (2009/06/0196 vom 23.9.2010) in der Sache selbst entschieden.

Abschließend erwähnt der VwGH in seinen Beschlüssen die Möglichkeit, einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der US-Berufungsfrist zu stellen. Die Wiedereinsetzungsanträge für die Einbringung einer Berufung an den Umweltsenat, die der VwGH erwähnt hat, müssen in den Fällen, in denen die vierwöchige Berufungsfrist nach dem UVP-G bereits abgelaufen ist, nun gemäß § 71 AVG innerhalb von vierzehn Tagen gestellt werden.

Einen Wiederaufnahmegrund (§ 69 AVG) oder Wiedereinsetzungsgrund (§ 71 AVG) für beim VwGH oder VfGH abgeschlossene Verfahren, in denen über eine Beschwerde bereits früher entschieden wurde oder die bei keinem der Höchstgerichte angefochten wurden, stellt diese Änderung der Rechtsprechung dagegen nicht dar.

Quelle: Presseaussendung des VwGH

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