Donnerstag, 22. Oktober 2015

EuGH stürzt Präklusion

Der EuGH hat in einem jüngsten Urteil einen fundamentalen Grundsatz des Verwaltungsverfahrens gekippt. In UVP und IPPC-Verfahren gibt es künftig keine Präklusion mehr. Daher kann jeder Betroffene Beschwerde gegen Genehmigungen an das Verwaltungsgericht erheben, unabhängig von vorherigen rechtzeitigen Einwendungen.
 
Von Berthold Lindner/Wolfgang Berger
 
"Verabschieden Sie sich vom Institut der Präklusion" hat der deutsche Rechtsanwalt Dr. Remo Klinger den Teilnehmern an den 19. Österreichischen Umweltrechtstagen 2014 in Linz zugerufen. Dieses Institut wäre unionsrechtlich nicht länger haltbar, Österreich müsse sich hier auf geänderte juristische Rahmenbedingungen einstellen. Mit dem am 15.10.2015 ergangenen Urteil des EuGH in der Rechtssache C-137/14 (Kommission/Deutschland) wurde diese Ankündigung Wirklichkeit. Dieses Urteil hat massive Auswirkungen auf die Durchführung der unionsrechtlich geprägten Verfahren, wie UVP- und IPPC-Verfahren, voraussichtlich auch in Verfahren betreffend Natura-2000 Gebiete.
 
Präklusion nach §§ 42 und 44a AVG
 
Bislang galten in Österreich folgende verfahrensrechtliche Grundlagen: Wurde eine mündliche Verhandlung ordnungsgemäß kundgemacht, so verloren Personen ihre Stellung als Partei, soweit sie nicht spätestens am Tag vor Beginn der Verhandlung schriftlich oder während der Verhandlung mündlich Einwendungen erhoben haben (§ 42 Abs 1 AVG). Wurden von der Behörde die Großverfahrensbestimmungen (§§ 44a ff AVG) angewendet, so verloren Personen ihre Stellung als Partei, soweit sie nicht während der öffentlichen Auflage des Genehmigungsantrags bei der Behörde schriftlich Einwendungen erhoben haben.
Der Verlust der Parteistellung hat durchaus gravierende Folgen: Personen, die nicht rechtzeitig Einwendungen erhoben haben, verloren sämtliche Parteienrechte (etwa Akteneinsicht, Parteiengehör und Beschwerderecht), auch wenn sie grundsätzlich dem Verfahren beizuziehen wären. Diese Personen konnten selbst dann nicht mehr am Verfahren teilnehmen, wenn sie nachweislich in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt waren. Zwar sahen die verfahrensrechtlichen Regelungen eine "Quasi-Wiedereinsetzung" vor (vgl § 42 Abs 3 AVG) vor, wodurch die Parteistellung wieder erlangt werden konnte. Die Voraussetzungen für diese "Quasi-Wiedereinsetzung" waren jedoch sehr streng und führten selten zum Erfolg.
Für Projektwerber hatten diese Bestimmungen immense Vorteile, weil im Verfahren spätestens nach Durchführung der Verhandlung (im Großverfahren nach Ende der Auflagefrist) feststand, welche Parteien am Verfahren beteiligt sind und welche Einwendungen von diesen geltend gemacht wurden. Eine nachträgliche Ausdehnung der Einwendungen war nicht möglich, weil die Parteien hinsichtlich weiterer Einwendungen ebenfalls präkludiert waren, diese also nicht mehr zulässig vorbringen durften.
 
EuGH entscheidet über Vertragsverletzungsklage gegen Deutschland
 
Diese Grundsätze gelten in den unionsrechtlich geprägten Verfahren künftig nicht mehr. In dem, dem Urteil vom 15.10.2015 zu Grunde liegenden Verfahren wurde Deutschland von der Kommission Folgendes vorgeworfen:
a)    Es wäre unzulässig, dass die Aufhebung von Verwaltungsentscheidungen auf jene Fälle beschränkt ist, in denen nachweislich ein subjektives Recht verletzt wurde.
b)    Unzulässig sei es, die Aufhebung von Entscheidungen aufgrund von Verfahrensfehlern auf das Fehlen einer UVP oder deren Vorprüfung zu beschränken, in denen der Beschwerdeführer nachweist, dass der Verfahrensfehler für das Ergebnis der Entscheidung kausal war und seine Rechtsposition betroffen ist.
c)    Die Klagebefugnis (in Österreich: Beschwerdebefugnis) und der Umfang der gerichtlichen Prüfung dürfen nicht auf Einwendungen beschränkt werden, die bereits innerhalb der Einwendungsfrist im Verwaltungsverfahren eingebracht wurden.
d)    Die übrigen Klagegründe betreffen spezifisch deutsche Belange im Zusammenhang mit der Klagebefugnis von Umweltverbänden. Diese Ausführungen könnten aber Auswirkungen auf eine vom VwGH dem EuGH  zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage habe (vgl VwGH 25.06.2015, Ro 2014/07/0108). Dort ging es um die Frage, ob die Bewilligungsfiktion bei Altanlagen nach § 46 Abs 20 Z 4 UVP-G 2000 (betreffend Altanlagen, die am 19.08.2009 bestanden und nicht mehr der Nichtigkeitsdrohung des § 3 Abs 6 unterlagen) möglicherweise unionsrechtswidrig sei. Auf diese Frage soll hier jedoch nicht näher eingegangen werden.
 
Das "subjektive Recht" bleibt
 
Zur Frage der Beschränkung der Beschwerdemöglichkeit Privater auf subjektive Rechte (oben lit a) hat der EuGH in Fortsetzung seiner bisherigen Judikatur erfreulicherweise festgehalten, dass der nationale Gesetzgeber zulässigerweise die Rechtsbehelfe Einzelner derart einschränken kann, dass diese von der Verletzung eines subjektiven Rechts abhängig gemacht werden (Rn 32). Die Rüge der Kommission in diesem Punkt wurde daher abgewiesen. Dies bedeutet, dass es Privaten auch weiterhin nicht möglich ist, die Einhaltung allgemeiner Umweltschutzvorschriften geltend zu machen. Ausdrücklich wird jedoch festgestellt, dass den Umweltverbänden dieses Recht jedenfalls zukommt (Rn 33).
 
"Beweislastumkehr" bezüglich Wesentlichkeit von Verfahrensmängeln
 
Hinsichtlich der zweiten Rüge (oben lit b) wird jedoch unter Hinweis auf das Urteil des EuGH vom 07.11.2013, Rs C-72/12, Altrip) festgehalten, dass Beschwerdeführer jede Art von Verfahrensfehlern geltend machen können, ohne dass dargelegt werden muss, dass dieser Verfahrensfehler Auswirkungen auf das Ergebnis der bekämpften Entscheidung hat (Rn 55). Inhaltlich begründet der EuGH dies im Wesentlichen damit, dass eine Einschränkung auf den Nachweis einer Relevanz von Verfahrensfehlern dazu führen würde, dass der unionsrechtlich eingeräumten Anfechtungsmöglichkeit sonst ihre praktische Wirksamkeit genommen würde (Rn 57).
Die Anfechtungsmöglichkeiten werden vom EuGH zwar sehr weitreichend gesehen, jedoch führt der EuGH aus, dass eine Rechtsverletzung durch einen Verfahrensfehler dann verneint werden kann, wenn "das Gericht... gegebenenfalls anhand der vom Bauherren oder von den zuständigen Behörden vorgelegten Beweise und allgemeine, der gesamtem dem Gericht oder der Stelle vorliegenden Akten zu der Feststellung in der Lage ist, dass die angegriffene Entscheidung ohne den vom Rechtsbehelfsführer geltend gemachten Verfahrensfehler nicht anders ausgefallen wäre" (Rn 60). Dies bedeutet im Ergebnis, dass ein geltend gemachter Verfahrensfehler nicht zwingend zu einer Behebung der bekämpften Entscheidung führen muss. Allerdings besteht künftig eine Beweislastumkehr dahingehend, dass nicht der Beschwerdeführer die Relevanz des Verfahrensfehlers aufzeigen muss. Vielmehr obliegt es dem Gericht, dem Projektwerber und der belangten Behörde, die mangelnde Relevanz des Verfahrensfehlers darzustellen. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass diese Aussagen vom EuGH auch auf jene Bedingungen ausgedehnt werden, die eine vom nationalen Gesetzgeber festgelegte Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle in der Sache bewirken (Rn 61). Dies bedeutet, dass den Gerichten damit eine umfassende Überprüfungsbefugnis des Genehmigungsbescheides eingeräumt wurde. Das Gericht ist damit bei seiner Beurteilung der Sache nicht auf die Beschwerdegründe beschränkt.
 
Die (Teil-)Präklusion fällt: Beschränkung der Gründe,
auf die sich gerichtlicher Rechtsbehelf stützen kann, ist unzulässig
 
Die für Österreich herausragendste Bedeutung des Urteils ist die Beurteilung der dritten Rüge der Kommission (vgl oben lit c; Beschränkung der Klagebefugnis und des Umfangs der gerichtlichen Kontrolle auf Einwendungen, die im Verwaltungsverfahren erhoben wurden).
Die Kommission hatte die Auffassung vertreten, dass die Beschränkung in § 2 Abs. 3 UmwRG und in § 73 Abs. 4 VwVfG, wonach im Rahmen eines gerichtlichen Rechtsbehelfs lediglich solche Einwendungen geltend gemacht werden können, die vorher im Verwaltungsverfahren erhoben wurden, gegen Art. 11 der Richtlinie 2011/92 und Art. 25 der Richtlinie 2010/75 verstoße.
Unter Hinweis auf die umfassende gerichtliche Kontrolle der sachlichen Richtigkeit der zu überprüfenden Entscheidung nach Art 11 UVP-RL sah der EuGH die umfassende Möglichkeit des Vorbringens von Einwendungen - unabhängig davon, wann diese vorgebracht werden - als geboten an. Das von der Republik Österreich, die als Streithelferin am Verfahren beteiligt war, vorgebrachte Argument, wonach die unionsrechtlichen Vorschriften auf das nationale Verwaltungsverfahrensrecht verweisen würde, wurde vom EuGH nicht aufgegriffen.
Es ist nach den Ausführungen des EuGH unzulässig, die Überprüfungsmöglichkeit des Gerichts auf jene Gründe zu beschränken, die als Einwendungen vorgebracht wurden. Künftig besteht damit keine Notwendigkeit mehr, innerhalb einer öffentlichen Auflagefrist oder bis zur mündlichen Verhandlung sämtliche Einwendungen vorzubringen. Einwendungen können in der Beschwerde nach Belieben ausgedehnt werden. Dies führt dazu, dass Verwaltungsverfahren enorm verzögert werden können, indem die für die Erörterung der Themen vorgesehene mündliche Verhandlung ignoriert wird und die Bedenken erst zu einem späteren Zeitpunkt im Gerichtsverfahren vorgebracht werden.

Was bleibt von der Präklusion übrig?

Das Urteil des EuGH könnte sogar die Einbringung von Beschwerden durch Personen, die bislang überhaupt nicht im Genehmigungsverfahren aufgetreten sind, ermöglichen. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass der von der Kommission beanstandete § 2 Abs. 3 UmwRG (nur) anordnet, dass Umweltverbände im Verfahren über den gerichtlichen Rechtsbehelf mit allen Einwendungen ausgeschlossen, die sie im Verfahren nach § 1 Absatz 1 Satz 1 nicht oder nach den geltenden Rechtsvorschriften nicht rechtzeitig geltend gemacht haben, aber hätten geltend machen können. Eigentlich regelt diese Gesetzesbestimmung daher nur die Teilpräklusion. Hingegen ist in dem von der Kommission nicht bekämpften § 2 Abs. 1 Z 3 des UmwRG geregelt, dass ein Umweltvereinigung einen gerichtlichen Rechtsbehelf einlegen kann, wenn "sie sich hierbei in der Sache gemäß den geltenden Rechtsvorschriften geäußert hat oder ihr entgegen den geltenden Rechtsvorschriften keine Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist". Diese Norm bindet die Beschwerdelegitimation also an die Erhebung von Einwendungen im Verwaltungsverfahren.
In der in der bisherigen Diskussion in Österreich nur von Kerstin Holzinger, ZVG 2016 Heft 1, beachteten Rn 76 hat der EuGH Folgendes ausgeführt:
"Zwar ist weder nach Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2011/92 noch nach Art. 25 Abs. 4 der Richtlinie 2010/75 ausgeschlossen, dass einem gerichtlichen Rechtsbehelf ein verwaltungsbehördliches Überprüfungsverfahren vorausgeht, und beide Vorschriften stehen dem nicht entgegen, dass das nationale Recht für den Rechtsbehelfsführer die Verpflichtung vorsieht, sämtliche verwaltungsbehördlichen Rechtsbehelfe auszuschöpfen, bevor er einen gerichtlichen Rechtsbehelf einlegen kann, doch lassen es diese unionsrechtlichen Vorschriften nicht zu, die Gründe, auf die er einen gerichtlichen Rechtsbehelf stützen kann, zu beschränken."
Beachtet man, dass die Kommission ausschließlich den § 2 Abs. 3 UmwRG in das Vertragsverletzungsverfahren einbezogen hat, und sieht man die Erhebung von Einwendungen im Verwaltungsverfahren als notwendige Ausschöpfung der "verwaltungsbehördlichen Rechtsbehelfe" an, so könnte die "Totalpräklusion" - der Ausschluss vom gerichtlichen Rechtsbehelf für jene, die sich am Verwaltungsverfahren trotz gegebener  Möglichkeit nicht beteiligt haben - überleben. Nur die Beschränkung der Beschwerdegründe auf jene Aspekte, die in den Einwendungen geltend gemacht wurden, wäre unionsrechtswidrig.
Noch einen weiteren kleinen (kryptisch formulierten) Ausweg ermöglicht der EuGH den nationalen Gesetzgebern, indem er ihnen die Möglichkeit einräumt, "spezifische Verfahrensvorschriften vor[zu]sehen, nach denen z.B. ein missbräuchliches oder unredliches Vorbringen unzulässig ist, die geeignete Maßnahmen darstellen um die Wirksamkeit des gerichtlichen Verfahrens zu gewährleisten" (Rn 81). Angesichts der strengen Judikatur zum Rechtsmissbrauch, wird jedoch auch diese Möglichkeit wohl kaum zu einer zufriedenstellenden Lösung der Problematik des Wegfalls der (Teil-)Präklusionsbestimmung führen.
Im Ergebnis wird der nationale Gesetzgeber wohl eine umfassende Novellierung des Verfahrensrechts – zumindest im Hinblick auf unionsrechtlich determinierte Verfahren – andenken müssen, um die gebotene effiziente Durchführung von Genehmigungsverfahren sicherzustellen. Anderenfalls wäre auf Unionsebene eine Initiative zu setzen, die dem nationalen Gesetzgeber die – an sich anerkannte – Möglichkeit einräumt, sein Verfahrensrecht samt allen damit in Verbindung stehenden Konsequenzen autonom zu regeln.

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